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Patagonien: Auf der Carretera Austral

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Die Luft ist raus. Nicht nur ich bin platt nach dem Paso Rio Mayer, sondern auch mein Vorderreifen. Kein besonderes Problem, schließlich habe ich Flickzeug dabei und sogar einen Ersatzschlauch. Und das Vorderrad ist einfacher zu entfernen als das Hinterrad. Schnell sind die Packtaschen entfernt, die Bremse ausgespannt, die Schraube gelöst und das Vorderrad entnommen. Das Rad balanciert einfach auf der Gabel während ich den Mantel löse und den Schlauch entnehme. Klingt routiniert, doch es wäre gelogen wenn ich behaupten würde diese Prozedur schon viele Male gemacht zu haben. Die Marathon Mondial Reifen lassen nicht viele Dinge durchdringen und auch dieses Mal ist es keine Schraube oder Nagel, sondern der Schlauch ist am Ventil aufgerissen. Genau dasselbe Problem hatte ich schon zweimal in der letzteren Zeit, zuletzt in Buenos Aires und davor am Flughafen in Auckland, wo ich zwar keinen Ersatzschlauch dabei hatte, sich jedoch ein Fahrradladen in Laufweite befand. Das Felgenband scheint sich zu verschieben und dadurch reibt der Schlauch an der scharfen Metallkante der Felgenventilöffnung und ich habe noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden. So ein Loch ist nur schwer zu flicken und ich entscheide mich direkt für den Ersatzschlauch.Um das Ventil wickle ich sicherheitshalber ein Stück alten Schlauch, zur Polsterung. Nach kurzer Zeit geht die Fahrt weiter, nur um einige hundert Meter wieder zu Enden. Diesmal ist es nicht das Ventil, sondern der Schlauch ist direkt über eine Länge von drei Zentimetern gerissen. Das nennt sich Pech – oder schlechte Qualität. Meine besten Chancen sehe ich darin den anderen Schlauch am Ventil zu flicken. Ich schneide ein Loch in meinen vorletzten Flicken und stülpe ihn über das Ventil, in der Hoffnung alles dicht zu bekommen. Es scheint zu funktionieren, die Luft hält. Zumindest für 20 Minuten. Nun ist es so, dass es noch dreißig Kilometer bis nach Villa O`Higgins sind. Und dass ich gestern Abend alle meine Vorräte aufgegessen habe, in der Annahme heute schnell in den Ort zu kommen. Wenn ich nicht an einem der wenigen Häuser nach Essen fragen will, oder eines der wenigen Autos nach einer Mitfahrgelegenheit, bleibt mir nur eines übrig: Pumpen, 20 Minuten möglichst weit radeln bis der Reifen platt ist, pumpen, radeln, pumpen, radeln. Mein Arm fällt mir fast ab vom Pumpen und ich nehme mir vor, doch nächstes mal eine teurere Zwei Wege Pumpe zu kaufen, welche beim drücken und ziehen Luft pumpt.

Es dauert also eine ganze Weile bis ich erschöpft und hungrig mein Ziel erreiche, genauer gesagt stoppe ich schon 200 Meter vor der Ortschaft. Hier befindet sich nämlich Tsoneks Eco Camp, und schon vorher hatte ich mir vorgenommen dort zu fragen, ob ich gegen Aushilfe kostenlos campen darf. Denn eine heiße Dusche und etwas Komfort kann ich gerade gut gebrauchen. Das Eco Camp befindet sich im Wald und besteht aus einer Gemeinschaftshütte, einem Gebäude mit Kompostklos und kleinen selbstgebauten Hüttchen aus Erde und recyceltem Material. Hier treffe ich auf Max, einen Deutschen welchen ich schon vorher in El Chalten begegnet war und der hier für einige Wochen voluntiert. Er sagt mir dass der Besitzer gerade nicht da ist und er verantwortlich sei. Noch bevor ich meine Frage nach der Möglichkeit auszuhelfen ausgesprochen habe, sagt er „Klar, das passt. Gestern ist eine andere Freiwillige abgereist, gar kein Problem.“ Nicht nur einen Schlafplatz bekomme ich, sondern auch noch kostenloses Essen. Im Gegenzug helfe ich beim Sauberhalten der Gemeinschaftseinrichtungen und mache ein paar Fotos für die Webseite des Ecocamps.

Ersatzschlauch Nr. 1

Am nächsten morgen laufe ich in die Ortschaft Villa O´Higgins. Ein paar hundert Leute wohnen hier, die meisten wahrscheinlich vom Tourismus lebend. Und obwohl hier viele Radler durchkommen gibt es keinen Fahrradladen, nur eine Ferreteria, eine Art Hardware store, welche auch Fahrradschläuche verkaufen soll. Nur leider ist sie geschlossen mit einem Schild „Bin drei Wochen in Urlaub!“.So lange möchte ich nicht warten und zum Glück sind ja immer ein paar Radler in der Stadt welche ich Fragen kann ob sie mir ihren Ersatzschlauch verkaufen können. Lothar heißt mein Retter und kommt aus Kanada. Mit seiner Frau ist von Norden nach Süden unterwegs und rückt gerne seinen Ersatzschlauch raus. Schließlich wird er zwei Tage später in El Chalten die Möglichkeit haben einen neuen zu kaufen.

Bei dieser Gelegenheit lädt er mich auch gleich noch zu sich nach Hause ein, auf meinem Weg nach Alaska müsste ich sowieso direkt an seinem Haus vorbei. Angenommen er ist dann zu Hause, dass weiß man ja nie so genau bei Radlern und so manche kurze Reise verlängert sich auf unbestimmte Zeit. Lothar gibt mir auch gleich noch den Tipp für eine Alternativstrecke um den Lago Gral Carrera nach Chile Chico. Die Strecke sei wunderschön und ich könnte auf Rückenwind hoffen.

Wieder Luft im Reifen, Kraft in den Beinen und Essen für einige Tage in den Packtaschen geht es dann los.

Ersatzschlauch Nr. 2

Die Landschaft ist atemberaubend. Natur pur. Grüne Wälder, undurchdringbar. Wilde Flüsse, unaufhaltsam wie die Wasserfälle welche die schroffen Bergmassive hinabstürzen. Der Quell des Lebens ist überall. Auch die Anstiege sind atemberaubend. Steil geht die Straße hoch und runter, bietet immer wieder die tollsten Ausblicke und hinter jeder Kurve wird das Auge aufs neue verwöhnt.

 

Am ersten Abend finde ich wieder ein refugio, eine einfache Hütte mit Feuerstelle. Dunkle Wolken haben sich am Himmel zusammengebraut und kurz nach meiner Ankunft fängt es an zu regnen. Es schüttet wie aus Kübeln und der Regen trommelt auf das Wellblechdach. Bis zum nächsten Morgen wird es durchregnen und selten bevor war ich so froh über ein Dach über meinem Kopf. Die Hütte wird regelmäßig von Radlern benutzt und die Wände sind verziert mit Sprüchen, Grüßen, Namen von Radler.

Ich finde ein paar Bekannte und einen neuen Fahrradschlauch. Ein Radler hat zwei nagelneue Schläuche zurückgelassen, aus welchen Gründen auch immer. Einer davon wandert in meine Packtaschen und so habe ich einen funktionstüchtigen Ersatzschlauch. Denke ich zumindest.

Ich habe leider nichts was ich da lassen könnte, doch in einer anderen Radlerunterkunft hatte ich vor ein paar Wochen meinen Tachometer zurückgelassen, für andere zu benutzen. Ich mag diese Idee von freiem Tauschen. Sachen die man selber nicht mehr benötigt, abzugeben. Oder Sachen die von jemand anderem nicht mehr gebraucht werden, zu bekommen. Viele meiner Kleidungstücke und auch andere Dinge habe ich auf diesem Wege erhalten.

Radlerbegegnungen

Am nächsten Morgen hört es auf zu regnen und es geht zurück auf die Straße. Die erste Fähre ist zu nehmen um einen See zu überqueren und sie ist dank Regierungsgeldern kostenlos, was für ein Service. Auf die Fähre passen nur rund 15 Autos und so herrscht auf dem folgenden Abschnitt kaum Verkehr.

Es ist wahrlich eine Traumstrecke für Radler. Abends gibt es genügend Möglichkeiten ungestört sein Zelt aufzuschlagen und dem Rauschen der Flüsse zuzuhören oder dem Leuchten der Sterne zuzusehen.

Und es finden sich auch genügend Radler um diese Momente zu teilen. Täglich kommen sie mir entgegen. Viele junge Chilenen die in ein paar Wochen diesen schönen Teil ihres Landes kennen lernen, aber auch Radler aus aller Welt, auf jahrelanger Tour oder Monatsurlaub. Einen Abend treffe ich auf Tim aus Neuseeland. Er ist in Kolumbien gestartet und möchte nach Ushuaia. Trotz seines Alters ist er fit, schläft im Zelt und fühlt sich allen Herausforderungen solch eines Trips gewachsen. Für mich inspirierend und ich hoffe wenn ich mal so alt bin wie Tim dass ich auch noch meine Träume lebe.

Ich treffe ein Schweizer Pärchen auf Weltumradelung und erhalte wertvolle Tipps bei diesen Begegnungen. Einen Abend im Ort Cochrane treffe ich auf Felix, einen deutschen Radler und wir zelten eine Nacht zusammen. Schön ist es mal wieder deutsch zu sprechen und sich ungezwungen über alles mögliche unterhalten zu können. Und am nächsten Tag trennen sich dann die Wege wieder, wir sind in verschiedene Richtungen unterwegs.

Patagonia sin represas!“

Patagonien ohne Staudämme 

Die ersten fünfhundert Kilometer der Carretera sind Schotterpiste. Mal gut und platt gefahren, mal locker und voller Bodenwellen. Die schönen Ausblicke und Zeltplätze sind hart erarbeitet. Meistens fahre ich nicht mehr als 60 Kilometer, manchmal auch weniger. Besonders morgens lasse ich mir Zeit, die Ruhe und die Natur zu genießen bevor ich wieder auf mein Rad steige.

Einen Tag zelte ich am mächtigen Rio Baker. Die Freiheit dieses Flusses stand einige Jahre auf der Kippe. Die chilenische Regierung verkaufte die Wasserrechte an große Konzerne welche gleich mehrere Flüsse mit großen Staudammprojekten eindämmen wollten. Der erzeugte Strom sollte für die Kupferproduktion eingesetzt werden. Die Vorstellung von Hochspannungsleitungen durch die Wildnis Patagoniens und dem massiven Eingriff in wertvolle Ökosysteme löste nicht nur bei den wenigen Menschen in Patagonien Bedenken aus. Große Proteste folgten und nachdem der Baubeginn über mehrere Jahre hinausgezögert wurde, wurde das Projekt schließlich gekippt. Zu einem großen Teil auch wegen den fallenden Kupferpreisen auf dem Weltmarkt, welche eine Kupferproduktion nicht mehr so lukrativ machten. Der Rio Baker darf erst mal noch frei fließen und mit seinen türkisblauen Wässern die Landschaft formen.

Doch mit einer Straße fängt immer die Erschließung eines Gebietes an. Mehr und mehr Leute siedeln sich in Patagonien an, mehr und mehr Touristen kommen hierher. Der Erde wird wieder ein Stück unberührte Natur abgetrotzt, das ist der Lauf der Dinge.

Am Lago Gral Carrera spaltet sich die Straße und man kann links um den See nach Cerro Castillo fahren oder rechts um den See nach Chile Chico und dort eine Fähre nehmen um wieder auf die Carretera zu kommen. Ich entscheide mich für diese Variante, den Ratschlag von Lothar folgend. Die wunderschönen Ausblicke über den See halten sein Versprechen, doch anscheinend hat er vergessen zu erwähnen dass die Straße nur hoch und runter geht und die Anstiege besonders steil sind. Auch der erhoffte Rückenwind will sich nicht einstellen und so verfluche ich schon nach 30 Kilometern meine Routenwahl.

Doch dann sehe ich in der Ferne eine einsame Figur am See sitzen und beim näher kommen ein Fahrrad an einen Zaun gelehnt. Jakob ist ähnlich erledigt wie ich. Er ist erst seit ein paar Wochen unterwegs und ohne Plan mit seinem Rad in El Calafate gestartet. Über die Ruta 40 ging es für ihn auf der argentinischen Seite nach Norden, immer gegen den Wind. Durch die trockene und heiße Pampa kämpfte er sich, während doch nur hundert Kilometer weiter westlich, auf der anderen Seite der Berge, die schöne, wenn auch nicht immer einfache, Carretera Austral verläuft.Von all dem wusste er nichts und er ist entzückt über die anderen Landschaften hier auf der chilenischen Seite. Jakob ist mir sofort sympathisch. Es kommt nicht so häufig vor dass ich richtig Lust habe mit einem anderen Radler zusammen zu fahren. Er will mich überzeugen, in seine Richtung zu fahren, links um den See, doch wenn ich an die An- und Abstiege der letzten 30 Kilometer denke, das möchte ich nicht nochmal machen. Doch wir verabreden uns für eine Woche später in Coyhaique, denn nach Norden ist er ja auch unterwegs.

Eine unerwartete Begegnung

Wenn ich gewusst hätte dass die nächsten 100 km genauso schwer werden würden wie die letzten dreißig, wäre ich besser mit Jakob mitgefahren. Die Straße schraubt sich steil die Berge hoch welche den See umgeben, nur um dann wieder auf Seelevel abzufallen und erneut zu steigen. Oft so steil dass ich schieben muss. Meine abgetragenen Schuhe finden keinen Halt auf dem Schotter und jede Steigung wird zur Tortur.

Es ist wohl eine der anstrengendsten Strecken auf meiner Reise und ich bin froh als ich in Chile Chico ankomme. Von dort geht eine Fähre über den See und es wartet eine Asphaltstraße auf mich. Als ich mein Rad von der Fähre schiebe, grüße ich mit einem Kopfnicken zwei andere Radler und möchte schon weiterfahren. Da höre ich hinter mir jemanden rufen „Schmale!“. Das kann doch nicht sein, wer kennt mich denn hier, und dann auch noch meinen Nachnamen. Mit einem breiten Grinsen kommt ein Typ auf mich zu. „Ich kenn dich doch, ich kenn deinen Bruder, in Deutschland!“ sagt er mir. Ich hab erst mal keinen blassen Schimmer, doch es stellt sich heraus das Julian ein Freund von meinem kleinen Bruder ist und früher bei uns zu Hause öfters zu Besuch war. Er ist mit seiner Freundin auch mit dem Rad unterwegs, von Kolumbien aus. Und natürlich weiß er von meiner Reise, kennt meinen Blog und erkennt mich dann tatsächlich bei dieser unerwarteten Begegnung. Wir machen ein Foto zusammen und dann müssen die beiden auch schon auf die Fähre und ich bleibe perplex zurück. Wie hoch sind die Chancen irgendwo in Südamerika zufällig jemanden aus deiner Heimat zu treffen? Diese beiden Begegnungen, mit Jakob und mit Julian, lassen mich mehr Sinn sehen in meiner Entscheidung diese Strecke gewählt zu haben.

Auf Asphalt geht es kurvig einen Pass hoch, und dann stundenlang nur bergab. Der Höhenunterschied ist nicht gewaltig doch die Straße hat nur ein sehr geringes Gefälle welches sich eine ganze Weile hinzieht, bevor ich mich im Einzugsgebiet der 50.000-Einwohner-Stadt Coyhaique wiederfinde. Die wilde Berglandschaft wird zu eingezäunten Weideflächen und der Verkehr nimmt stetig zu je näher ich der Stadt komme. Es ist komisch so viele Menschen zu sehen, in einem riesigen Supermarkt einzukaufen und auf Ampeln und Verkehr zu achten. Schnell möchte ich weiterfahren, doch mein Körper braucht erst mal eine kleine Pause.

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