Chile: Anders leben

Veröffentlicht

Mai/Juni 2018

Santiago

Mit gemischten Gefühlen radel ich nach Santiago hinein. Große Städte können faszinierend sein, aber zugleich auch abschreckend. Der Verkehr, die Luftverschmutzung, der Lärm – nach den letzten Monaten in der patagonischen Wildnis ist es ein Kontrast, an den ich mich erst wieder gewöhnen muss. Die Straßen sind verstopft mit Autos, die Gehwege voller Menschen. Acht Millionen leben in dieser Stadt und ich kenne zwei davon.

Keine Zeit für Langeweile

Mein Freund Gabriel, in Santiago aufgewachsen aber als Vielreisender auch gerade selber nur zu Gast hier, nimmt mich herzlich auf und ich genieße ein bequemes Bett, heiße Duschen und warme Mahlzeiten. Abends nimmt er mich mit zu seinen Freunden, welche nicht nur super nett sind, sie sprechen alle ziemlich gutes Englisch und können zu meiner Freude problemlos mitten in der Unterhaltung die Sprache wechseln. Endlich kann ich mal wieder mitreden und nicht nur versuchen das chilenische Kauderwelsch zu verstehen.

Ich erkunde die positiven Seiten einer Stadt, lasse mir von meinen neuen Freunden die Sehenswürdigkeiten zeigen, Museen empfehlen, gönne mir Sushi und Pizza und peruanisches Essen und schaffe es, meine Abneigung gegen Riesenstädte etwas abzulegen. Unbegrenzte Möglichkeiten gibt es hier, kulturell und sozial, es ist immer etwas los und so viele neue Menschen bedeuten auch potenziell viele neue Freunde.

Santiago ist eine moderne Stadt. Wolkenkratzer schieben sich dem Himmel entgegen während unter der Erde eine moderne Metro den Transport von tausenden von Menschen übernimmt. Riesige Shoppingmalls und Einkaufsstraßen locken mit Sonderangeboten und Glücksversprechen die mehr betuchten Großstadtbewohner aus ihren modernen Apartments. Unzählige Restaurants, Bars und Nachtclubs lassen auch die Nächte nicht langweilig werden.

Eine Nacht finde ich mich in einem kleinen Untergrund Nachtclub wieder. Eine dieser Einrichtungen welche von außen nicht als solche zu erkennen sind und deren Adresse man nur über Facebook bekommt. Kein Cumbia oder Latino Pop läuft hier, sondern gute elektronische Musik. Die Stunden vergehen und mein Körper kann nicht ruhig bleiben, ich hatte doch tatsächlich vergessen wie sehr ich tanzen mag. Und auch, dass übermäßiger Alkoholkonsum heftige Kopfschmerzen und allgemeine Verkaterung nach sich zieht.

Auch meine Deutschkenntnisse finden Anwendung. Anne, welche ich auch aus Crunchytown kenne, arbeitet hier in einem Hostel und einen Abend finde ich mich mit gut 10 anderen Deutschen um einen Tisch versammelt, laut und fröhlich in der Muttersprache quasselnd. Dies sind Reisende wie ich, welche keinen Job haben, sich keine Sorgen um Geld machen (zumindest solange man noch etwas hat), welche jeden Tag ausschlafen können wenn sie wollen und nicht viele Verpflichtungen haben.

Natürlich ein Sonderstatus, denn die meisten Menschen in Santiago haben einen Job und machen sich Sorgen wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Sie müssen Miete bezahlen, Essen, Rechnungen, für Kinder aufkommen und für die sonstigen Kosten des Lebens. Ihre Leben bilden sie um die Arbeit herum und die Arbeitstage sind lang. Wenn ich nachmittags zur rush hour die Metro nehme und in die angespannten und erschöpften Gesichter der Menschen blicke, welche sich dicht an dicht in die Züge schieben, bin ich froh anders zu leben.Viele haben Kopfhörer im Ohr und das Gesicht stetig auf das kleine leuchtende Display des Telefons gerichtet, sich selbst abkapselnd von ihrer Umgebung und flüchtend in die digitale Parallelwelt, welche das Leben eines durchschnittlichen Städters mehr und mehr durchzieht. Nur selten hört man Menschen sich unterhalten oder schafft es einen längeren Blick oder ein Lächeln aufzufangen.

Da haben es auch die Verkäufer schwer, welche sich durch die vollen Züge drängeln und monoton ihre Waren ausrufen, Schokoladenriegel, Kaugummi, Kugelschreiber, Empanadas. Sie werden geflissentlich ignoriert und ich frage mich, wie sie genug Geld verdienen um leben zu können. Ich bin jedes mal erleichtert wenn ich die Metro verlasse, doch auch auf den Straßen herrscht Stau. Ungeduldiges Gehupe und Gedrängel ist normal. Nach einem Zehn Stunde Tag möchte man halt nur noch nach Hause, essen, schlafen oder abschalten vor dem angeschalteten Fernseher.

Für diese Menschen scheint es normal zu sein so zu leben. Es scheint normal zu sein dass sich das Leben um die Arbeit dreht. Ums Geld verdienen, um Rechnungen zu bezahlen und Sachen zu kaufen. Aber geht es nicht auch anders?

Anders Leben

Nach zwei Wochen in Santiago habe ich erst mal genug von der Stadt. Ich merke wie der Stress der anderen auf mich über geht. Unbewusst passe ich mich der Eile der anderen an, überhole sogar andere Menschen, obwohl ich doch eigentlich alle Zeit der Welt habe. Ich laufe durch die riesigen und modernen Shoppingmalls, schaue in die Schaufenster von Geschäften, obwohl ich doch eigentlich alles habe was ich brauche. Die Schnelllebigkeit der Stadt macht mir zu schaffen, die vielen Möglichkeiten und die Anonymität unter den tausenden Gesichtern in die ich täglich blicke. Auch merke ich die Abwesenheit der Natur, sieht man mal von den Parks und dem Blick auf die die Stadt umgebenden hohen Bergen ab.

Andres, ein Freund welchen ich auf dem Rainbow Gathering in Argentinien kennenlernte, hatte mir angeboten in seiner Hütte am Meer zu wohnen, da er gerade auf Reisen ist. Sie liegt nur ein paar Stunden von Santiago entfernt. Radelmüde wie ich bin, nehme ich einen Bus und bitte den Busfahrer an der beschriebenen Stelle anzuhalten. Ich hüpfe aus dem Bus und mir bietet sich ein schönes Panorama. Vor mir ein steiler, grüner Berghang, welcher in schroffe Klippen übergeht wohinter sich bis an den Horizont das endlose blaue Meer erstreckt. Kein Zeichen von menschlicher Zivilisation, außer einem schmalen Trampelpfad. Er führt zu einer kleinen Hütte, versteckt unter Bäumen. Freunde von Andres heißen mich willkommen und führen mich anschließend zu seiner Hütte, welche in den nächsten Wochen mein Zuhause sein wird. Außer Sicht- und Hörweite der Straße schmiegt sich eine einfache Holz-und Lehmkonstruktion mit Wellblechdach an den Berghang und bietet eine fantastische Aussicht auf den Ozean, welcher ein paar hundert Meter tiefer gegen die Klippen brandet. Innen mit allem notwendigem ausgestattet: Ein Tisch, ein kleiner Gasherd zum kochen, ein Ofen für die kalten Nächte, eine Matratze zum schlafen.

Es ist der perfekte Ort für mich für diesen Moment. Um mich auszuruhen, zu reflektieren, alleine zu sein. Um zu mir selber zu finden und die Gründe hinter meiner Reisemüdigkeit zu verstehen. Um neue Pläne zu machen und über meine Prioritäten im Leben nachzudenken. Hier habe ich meinen eigenen Raum, kann mich nur um mich selber kümmern, niemand stört mich, niemand beobachtet mich. Mein eigenes kleines Reich, was ich so oft vermisse beim reisen. Wenn ich aus der Hütte trete, höre ich das Rauschen des Meeres und das Schreien der Möwen im Wind. Ich liebe es, abends am Feuer zu sitzen und den Sonnenuntergang zu beobachten und anschließend die Sterne im Himmel zu betrachten. Mal zur Ruhe zu kommen und nicht jede Nacht an einem neuen Ort zu verbringen.

Und als es mir nach ein paar Tagen doch zu einsam wird, freunde ich mich mit meinen Nachbarn an. Es gibt noch ein paar andere Hütten hier, alle unterschiedlich und individuell. Es sind keine perfekten, durchgeplanten Konstruktionen, eher Kunstwerke, der Fantasie und den Träumen kreativer Menschen entsprungen, Schritt für Schritt in Realität umgesetzt und ständig im Wandel.

Da ist die Hütte von Luciano, welche fast nur aus recycelten Materialien gebaut wurde und in deren Rückwand drei lebende Bäume integriert sind. Sie wachsen durch das Dach heraus und lassen bei starkem Wind die Hütte sanft schaukeln. Alte Windschutzscheiben dienen als Fenster und bieten einen Panoramablick auf die Bucht und das Meer.

Ein paar hundert Meter weiter steht die Hütte von Hugo, die neueste Konstruktion hier. Stolz zeigt er mir die Fenster, welche sich öffnen lassen und das Kompostklo hinter dem Haus. Niemand hier hat Architektur studiert oder ist Schreiner. Durch mithelfen bei anderen Bauprojekten oder einfachem Ausprobieren werden die nötigen Erfahrungen gemacht. Wie auch die Hütten der anderen ist Hugos nur eine Teilzeitbehausung. Jeder hat noch einen anderen Ort zum Wohnen, bei den Eltern in der Stadt oder bei Freunden.

Der Speertaucher

Hugo ist, genauso wie Luciano und mein Freund Andres, Speertaucher. Das ist seine gewählte Art, das Geld zu verdienen was er zum Leben braucht. Mehrmals die Woche macht er sich den steilen Abstieg zum Meer hinunter, ausgerüstet mit Neoprenanzug, Taucherflossen, Bleigürteln und einer Harpune. Sein Hund Gaspar wartet treu auf den Felsen, während Hugo sich in einen Fisch verwandelt und für mehrere Stunden Jagd auf Meeresbewohner macht.

Ganz ohne Sauerstoffgerät taucht er bis zu zwanzig Meter tief und für mehrere Minuten. Es ist eine Art zu jagen, wie sie schon seit tausenden von Jahren praktiziert wird und die immer mehr in Vergessenheit gerät. Kein Wunder, moderne Fangmethoden sind natürlich viel effizienter, aber auch viel zerstörerischer. Doch ein einzelner Mensch mit einer Harpune kann gar nicht so viele Fische töten oder Muscheln sammeln, dass das Gleichgewicht des Meeres in Gefahr wäre. Es ist eine nachhaltige und auch anstrengende Art zu jagen. Der Fang wird in der nächsten Stadt an ein Restaurant verkauft welches genau darauf Wert legt, auf nachhaltiges und umweltfreundliches Fischen.

Der Häuslebauer

Ein weiterer Nachbar ist Camilo. Auch er hat angefangen, die Kunst des Speerfischens zu lernen, doch das Geld was er zum Leben braucht, verdient er als Musiklehrer. Ein paar Privatstunden pro Woche zu geben, reichen für seinen einfachen Lebensstil aus. So bleibt ihm genügend Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens. An seiner Behausung bauen, Musik machen, kochen, kreative Energie entfalten, einfach leben.

Seine Hütte hat er vor zwei Jahren angefangen zu bauen. Er wollte nicht mehr in der einengenden Stadt leben und zieht die Ruhe und Abgeschiedenheit in der Natur vor. Ohne viele Vorkenntnisse fing er sein Bauprojekt an, den ersten Winter musste er noch in einem Zelt in der halb fertigen Konstruktion verbringen. Mittlerweile ist sein Haus größtenteils wasserdicht, nur bei tagelangem Regen werden die Wände nass. Ich helfe Camilo, die Außenwände mit einer Kalkschicht zu versehen und das Dach für eine Terrasse zu erweitern. Mit einfachen Mitteln wird gearbeitet. Handsäge, Hammer und Nägel sind die wichtigsten Werkzeuge. Die Materialien kommen wenn möglich aus der direkten Umgebung. Große Steine für das Fundament, mit einem großen Sieb wird die Erde zu feinem Sand verarbeitet und mit Wasser zu Lehm verknetet. Die Pfosten und Balken kommen aus einem nahegelegenen Waldstück, trockenes Gras findet ebenso Verwendung wie Glasflaschen und sogenannte Eco Bricks. Das sind mit Plastikabfällen gefüllte Plastikflaschen, welche aus Müll ein wertvolles Baumaterial werden lassen. Kreativität ist wichtiger als Planung, probieren geht über studieren.

Nicht nur die Bauweise von Camilos Hütte ist einfach, auch seine Lebensweise ist es. Kein Strom, kein fließend Wasser, dafür Kerzenlicht und das Meer direkt vor der Haustür. Einmal in der Woche geht er auf den Markt in der Stadt um Gemüse und Obst einzusammeln. Denn alles was die Händler nicht verkaufen können, landet auf dem Boden um später aufgefegt zu werden und als Schweinefutter zu enden. Oftmals sind es nur kleinere Schönheitsmängel oder Druckstellen, welche das Essen unverkaufbar aber nicht ungenießbar machen und schnell ist eine Kiste mit verschiedenem Gemüse und Obst eingesammelt. Auch die Natur gibt so einiges her. Fische und Muscheln aus dem Meer, sowie Cochayuyo Algen, welche eine leckere und gesunde Ergänzung zu jeder Speise sind.

Doch ich lasse Camilo mal selber zu Wort kommen:

Camilos ruhige Art und Lebensweise gefällt mir. In der Zeit die ich hier verbringe, werden wir Freunde. Irgendwann werde ich auch mein eigenes Haus bauen, nur wo? ist die Frage. Für den Moment begnüge ich mich damit, die Hütte meines Freundes Andres ein wenig auszubessern. Ich dichte ein Loch in der Wand ab, durch welches bei starkem Regen Wasser eindringt, baue eine Regenwassersammelanlage und eine Bank und besser den Pfad aus welcher zu der Hütte führt.

Die Zeit vergeht und ich bleibe gut vier Wochen.Dann habe ich die nötige Kraft gesammelt und es wird mir zu langweilig und auch ein wenig zu einsam in meiner Hütte am Meer. Auch die einstündige Fahrt in einem oft überfüllten Bus in die nächste Stadt zum einkaufen, wird mir auf Dauer lästig. Es ist einer dieser Abschiede die mir nicht leichtfallen aber die zum reisen dazugehören. Zurück in Santiago verbringe ich noch zwei weitere Wochen bevor ich mich wieder auf den Weg mache. Bolivien soll das nächste Ziel sein.

3 Gedanken zu „Chile: Anders leben

  1. I was in Argentina & Chile in January this year! It’s a shame you didn’t get to meet my friends Juan and Guido in Buenos Aires. They couch surfed with me a year a few months after you and Juan went to froghouse and then cycled around Asia inspired by stories of you I think! 😛

  2. Du kannst auf Kos, Griechenland dein Haus bauen. Wenn du mal zurück in Europa bist, werde ich dir von Herzen gerne helfen. Es gibt in Griechenland sehr viele Inseln, auf denen du dein Stück Land beackern und beleben darfst.

    Florian, gute Weiterreise. Die letzten 1,5 Std. auf deiner Seite haben mir, wie immer, sehr gut getan.

    Danke.
    Alexandros

  3. hey florian! it was amazing having you at our home for a week or so, you gifted me a little red notebook which i use everyday now, so i remember you a lot whenever i use it. It was great meeting you, I hope your travels are all going great and that you find what you’re looking for. Much love, you’ll always have a warm bed in santiago de chile should you need it!

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